Wem dient Wissenschaft?

Ist das was ich kaufe für Menschen und Umwelt schädlich? Diese Frage vieler VerbraucherInnen sollte eigentlich die Wissenschaft beantworten. Doch angesichts von zunehmend gekaufter Wissenschaft sinkt das Vertrauen in Forschungsergebnisse

Beim Einkaufen und Bestellen fällen VerbraucherInnen viele wichtige Entscheidungen, für sich, die anderen Menschen und die Umwelt. Dabei entscheiden Menschen nicht nur rational, es ist eine Mischung aus Gehirn und Bauch mit all den Vorurteilen, Ängsten und Assoziationen. Aus guten Gründen also haben Menschen beides, Gefühl und Verstand. Das Geheimnis guten Entscheidens besteht darin, beide mitreden zu lassen. Einfach ist es, wenn eine Option klar besser erscheint als der Rest. Aber so leicht ist es nicht immer. Um sich nicht von den fabelhaften Versprechungen der Werbung und des Marketings um den Finger wickeln zu lassen und schädliche Fehlentscheidungen zu vermeiden braucht es eine verläßliche Basisinformation. Diese sollte die Wissenschaft liefern. Alle großen Themen, die uns täglich beschäftigen wie Gesundheit, Umwelt, Klima, Ernährung, demografischer Wandel, die digitale Revolution bis zur künstlichen Intelligenz oder Fragen von Globalisierung und Nachhaltigkeit sind von wissenschaftlichen Erkenntnissen geprägt. Zunehmend werden heute diese infrage gestellt. Das reicht vom Alltag bis in die große Politik. Fake News erlangen riesige Verbreitung und der amerikanische Präsident leugnet den durch wissenschaftliche Erkenntnisse untermauerten Klimawandel und macht dies zur Grundlage seiner Politik.

Der Preis der Wissenschaft

So ist in Deutschland laut dem Buch „Gekaufte Wissenschaft“ von Christian Kreiß nur noch ein Sechstel der Forschung frei, der allergrößte Teil findet im Dienste der Gewinnmaximierung statt. Fünf Sechstel sind weisungsgebundene Forschung, der größte Teil davon im Dienste der Industrie, ein kleinerer Teil durch detaillierte staatsbürokratische Vorgaben. Also es geht viel zu wenig um das was gut für Mensch, Tier und Umwelt ist.

Wenn es in der Großindustrie zu einem Zielkonflikt zwischen Gewinn und Wahrheit kommt, siegt praktisch immer der Gewinn. Konkret: Wenn die Wahrheit gesagt wird, dass Dieselemissionen ungesund sind und nicht unter ein gewisses Mindestmaß reduziert werden können, dann führt man eine Lügensoftware ein, die scheinbar das Gegenteil zeigt. Der Dieselskandal hat Zigtausende Menschenleben gekostet - aber die Gewinne der Autokonzerne dramatisch erhöht. Aber nicht nur die Auto- oder Tabakindustrie arbeiten nach dem Prinzip Gewinn vor Wahrheit, sondern viele, wenn nicht alle großen Industriezweige. Besonders prominent ist die Pharmaindustrie, wo dieses Prinzip seit Jahrzehnten die Grundmaxime ist und wo man buchstäblich über Leichen geht, um die Gewinne zu erhöhen. Aber auch aus der Chemieindustrie (Stichwort Glyphosat, Holzschutzmittel, Dioxin) und der Lebensmittelindustrie (Big Food, Big Sugar), gibt es viele Beispiele für korrumpierte Forschung, ebenso aus der Medienindustrie und vielen anderen Branchen.

Beispiel EFSA

Die europäische Agentur für Lebensmittelsicherheit (EFSA) mit Sitz in Parma sollte die wissenschaftliche Beratung zu bestehenden und neu auftretenden Risiken entlang der Lebensmittelkette leisten, über diese informieren und daher über unser Essen wachen. Sie ist zum Beispiel zuständig für Pestizidrückstände in Lebensmitteln, Zusatzstoffe, Gen-Pflanzen, Verpackungen und das Klonen von Tieren. Doch leider können sich die EuropäerInnen nicht getrost zurücklehnen. Die Vergangenheit von EFSA wirft so ihre Schatten. Annette Toft, Brüsseler Cheflobbyistin des "Danish Agriculture & Food Council", einem Mitgliedsunternehmen des Verbands COPA_COGECA sowie Vorsitzende der diesbezüglichen Arbeitsgruppe zu Lebensmitteln, ist Mitglied des Verwaltungsrats von EFSA. 2017 hatten außerdem fast die Hälfte der WissenschaftlerInnen der wissenschaftlichen Gremien parallel Posten bzw. Verbindungen zu Lobbyverbänden der Lebensmittelindustrie bzw. den Konzernen selbst. Es bestehen deswegen Zweifel, ob die EFSA nur für das Allgemeinwohl handelt.

Wie „Il Salvagente“ in der letzten Ausgabe schreibt ist die Beziehung von EFSA zum International Life Sciences Institute (ILSI) von einem Drehtür-Effekt gekennzeichnet. Also Verantwortliche wechseln zwischen Industrie und Aufsichtsbehörden hin und her. ILSI ist eine einflussreiche Lobbyorganisation im Lebensmittelbereich, die von Unternehmen der Lebensmittel-, Chemie- und Gentechnikindustrie gegründet worden ist. Vor einem Jahr hat ILSI mittels einer Studie versucht die Krebsrisiken von dunklem Fleisch gegebenüber den Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herunterzuspielen. Der Autor dieser Studie hatte drei Jahre früher mittels einer ähnlichen Studie versucht die internationalen Gesundheitsrichtlinien in Bezug auf Zucker zu diskreditieren. Hans-Ulrich Grimm bezeichnet ILSI in seinem Buch "Food War" (München 2020) als exklusiven Lobby-Club für das Ungesunde, für die Multimilliardengeschäfte mit der ultraverarbeitenden Nahrung. Ein Tiefpunkt der EFSA war auch die Glyphosat-Zulassung Ende 2017, bei der unglaublich getrickst und getäuscht wurde (siehe Monsanto Papers).

Gewinnmaximierung gegen Allgemeininteressen

Gewinnmaximierung ist der Tod aller unabhängigen Wahrheitsfindung. In dem Maße, in dem gewinnmaximierende Konzerne über Geld- oder Lobbykanäle Einfluss auf die Hochschulforschung gewinnen, in dem Maße wird die Forschung korrumpiert und meistens für uns VerbraucherInnen schädlich. Und genau das geschieht in den letzten Jahrzehnten in immer größerem Umfang. Im Buch „Gekaufte Wissenschaft“ wird auch herausgearbeitet, was getan werden kann, um diese Fehlentwicklungen zu stoppen oder umzukehren. Doch dazu braucht es gesellschaftlichen oder politischen Willen um die freie Wissenschaft der Allgemeinheit zu verpflichten.

Im Konsumentenschutzverein Robin ist man überzeugt, daß die oft unglaublichen Vorgänge bei den Aufsichtsbehörden eine Menge Vertrauen in die EU und die Mitgliedsstaaten zerstört haben. Anstatt die Gesundheit der EU-BürgerInnen zu schützen, werden viel zu oft Industrie-Interessen bedient. Es gilt durch eine rigorose Aufklärung das zerstörte Vertrauen wieder herzustellen. Denn VerbraucherInnenpolitik soll nicht nur defensive Schutzpolitik sein, sondern auch aktiv gestaltende Innovations-, Nachfrage- und Lebensqualitätspolitik.

 

19. Okt. 2020