EU-MitarbeiterInnen erhalten dieses Jahr 8,5% automatische Lohnsteigerung. Und bei uns?

Robin: Schrumpfende Kaufkraft schadet der Wirtschaft

Ob beim Bäcker, im Supermarkt, im Gasthaus, an der Tankstelle oder bei Betrachten der verschiedenen Rechnungen: tagtäglich erschrecken viele VerbraucherInnen vor den generellen Preissteigerungen. EU-Angestellte haben diesbezüglich kein Problem. Sie können in diesem Jahr ein kräftiges Lohnplus erwarten. Um bis zu 8,5 Prozent dürften die Gehälter für das Personal der europäischen Institutionen steigen, da sie sich an der Inflationsentwicklung in Belgien und Luxemburg orientieren. Die automatische Inflationsanpassung ist rechtlich für etwa 60.000 MitarbeiterInnen von EU-Organen so vorgesehen, auch für die Abgeordneten und Angestellten des EU-Parlaments. Ein Modell, welches in Europa nur noch in Belgien, Luxemburg, Malta und Zypern Anwendung findet. Ein positives Beispiel, welches unverständlicherweise in Italiens Öffentlichkeit überhaupt nicht zur Sprache kommt. „Das gleiche Indexierungssystem sollte auf alle europäischen Arbeitnehmer angewandt werden, und die Kommission sollte dies den Mitgliedstaaten klar empfehlen, da sie weiß, dass Lohndruck zu wirtschaftlicher Rezession führt", sagte der Generalsekretär des Europäischen Gewerkschaftsbundes Luca Visentini in einer Erklärung.

Dabei hatte Italien bereits einmal die sogenannte „Scala mobile“. Hier wurden die Löhne vierteljährlich automatisch den (steigenden) Preisen angepasst. Die „Rolltreppe“ wurde 1992 endgültig abgeschafft wurde. An ihre Stelle trat als Ausgleich die sogenannte Kontingenzzulage, ein Mechanismus, dem es jedoch nicht gelungen ist, die Kaufkraft der italienischen Arbeitnehmer zu erhalten: Zwischen 1990 und heute ist Italien nach Berechnungen der OECD das einzige Land, in dem die durchschnittlichen Bruttojahresgehälter gesunken sind: minus 2,9 % in dreißig Jahren, verglichen mit +276,3 % in Litauen, dem ersten Land der Rangliste, +33,7 % in Deutschland und +31,1 % in Frankreich.

Schreckgespenst Lohn-Preis-Spirale

Nach der Veröffentlichung des Ausmaßes der automatischen EU-Lohnanpassung haben verschiedene Wirtschaftsexperten, angefangen von der Europäischen Zentralbank, mit heftiger Kritik aufhorchen lassen. Sofort wurde das Schreckgespenst der Lohn-Preis-Spirale an die Wand gemalt: Überzogene Lohnforderungen der Beschäftigten – so die KritikerInnen – könnten Unternehmen auf Jahre hinaus zu hohen Preissteigerungen zwingen, was zu einer schädlich hohen Inflation und im Extremfall sogar zu einer anhaltenden Stagflation führe. Ist da was dran?

Eine Lohn-Preis-Spirale kann unter zwei Voraussetzungen entstehen: Zum einen, wenn Beschäftigte und Gewerkschaften eine so große Macht in den Verhandlungen mit den ArbeitgeberInnen haben, dass sie Löhne und Arbeitsbedingungen praktisch diktieren können. Zum anderen, wenn Beschäftigte und Gewerkschaften sich bei ihren heutigen Lohnforderungen nicht an einer für die Zukunft realistischen Inflationsrate orientieren. Wenn beide Bedingungen zutreffen, dann können Lohnerhöhungen die Zahlungsfähigkeit oder -willigkeit der Unternehmen übersteigen, so dass diese die höheren Lohnkosten in Form gestiegener Preise an die KonsumentInnen weitergeben. Das wiederum könnte die Lohnerhöhungen weiter befeuern und zu einer exzessiven Inflation führen.

Nie jedoch waren die Voraussetzungen für eine Lohn-Preis-Spirale in Italien weniger gegeben als heute. Die realen Löhne und damit die Kaufkraft der Einkommen dürften auch in diesem Jahr deutlich sinken. Vieles spricht dafür, dass die Lohnentwicklung eher zu schwach als zu stark ist.

Schrumpfende Kaufkraft schadet

Der Geschäftsführer des Verbraucherschutzvereins Robin, Walther Andreaus, bemerkt dazu, dass es sich bei der „Mär von der Lohn-Preis-Spirale eher um ein Ablenkungsmanöver handelt, welches implizit Beschäftigten und Gewerkschaften die Verantwortung für die hohe Inflation gibt. Was heute existiert, ist vielmehr eine Preis-Preis-Spirale, bei der sich die über die Energiekosten importierte Inflation und von Unternehmen bestimmte Konsumentenpreise gegenseitig verstärken. Von unverschämten, spekulativen Preiserhöhungen ganz zu schweigen.“

Lohnerhöhungen können aus einer gesamtwirtschaftlichen Sicht zu stark, aber auch zu schwach sein. Denn je stärker die Kaufkraft schrumpft, desto höher ist auch der Schaden für die Wirtschaft. Umgekehrt können übermäßige Lohnerhöhungen zu Beschäftigungsverlusten und Arbeitslosigkeit führen. Doch diese Gefahr besteht in Italien seit Jahrzehnten nicht mehr. Dies zeigt, dass langfristig die Interessen der ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen nicht gegen einander stehen können. Der zentrale, häufig jedoch vergessene Punkt ist ein anderer: Hohe Löhne und unternehmerischer Erfolg, auch im öffentlichen Sektor, bedingen einander. Die erfolgreichsten Unternehmen sind solche, mit den höchsten Löhnen und besten Arbeitsbedingungen. Der soziale und wirtschaftliche Ausgleich war und ist die große Stärke der Sozialen Marktwirtschaft.


 

11. Aug. 2022